Booklet-Text zur CD
tom sora - music for mechanical ans elctronic instruments,
label col legno/NEOS, 20006
Die künstlerische Arbeit Tom Soras (*1956 in Bukarest, lebt in München, studierte Musiktheorie an den Musikhochschulen Bukarest und Stuttgart, Orgel an der Musikhochschule München, promovierte in Ästhetik an der Universität Paris I ) nimmt stellvertretend für Europa vielleicht das vorweg, was in den USA längst Realität ist, aber auch hier als Perspektive kompromissloser künstlerischer Arbeit zunehmend sich abzeichnet: nämlich den Status der „mavericks“ (i.e. „andersdenkende“ Personen, die unabhängig vom Rest einer Gruppe handeln), die jenseits öffentlicher Förderung und institutioneller Unterstützung, Konzepte oftmals experimenteller Prägung entwickelt haben. Diese unabhängige Praxis wird in ihrer Bedeutung als Produktionsstätte für neue Denk- und Lebensmodelle, in ihren Bemühungen um den überlebenswichtigen „Möglichkeitssinn“, oft unzureichend wahrgenommen. Doch letztendlich zu unrecht, denn in dieser Nische kann sich die Tür auftun zu einer ganzen Welt: Wo Soras Stücke erklingen, treffen sie – auch bei einem nicht spezialisierten Publikum – regelmäßig auf große Resonanz. Für die Zuhörer stellt sich gleichermaßen intellektuelle Herausforderung wie sinnliches Vergnügen ein. Trotz strukturalistischen Ansatzes und kompositorischer Radikalität entfalten seine Werke einen großen Zauber, auch weil in seiner Musik Grundprobleme menschlicher Existenz durchaus ästhetisch reflektiert sind. Der Zuhörer wird herausgefordert zur Aktivität des Wahrnehmens, des Entschlüsselns, des In-Beziehung-Setzens, des selbständigen Denkens.
Für die Realisation der unter dem lapidaren Titel 20 Töne zusammengefassten neun Stücke (1993-98) für eine zwanzigtönige, diatonische Kurbelspieluhr benutzte Sora jeweils Kartonlochstreifen, in die er seine Kompositionen eigenhändig gestanzt hat. Durch das Drehen der Kurbel wird der gelochte Kartonstreifen durch die Spieluhr gezogen. Eine Aufführungssituation auf noch kleinerem Raum wie bei dieser Reihe von neun Stücken ist kaum denkbar. Sora betätigt mittels konstanten sehr schnellen Drehens die winzige Kurbel seiner Spieluhr, die nicht einmal so groß ist wie eine Butterdose. Es gilt dabei bis zu zehn Minuten lang durchzuhalten, um die auf Lochstreifen festgehaltenen musikalischen Strukturen zum Erklingen zu bringen. Auf diese Weise entsteht auf performativer Ebene ein Gestus äußerster Anstrengung und Konzentration, der wiederum auf den viel mühsameren und zeitaufwendigeren Herstellungsprozess verweist. Ohne die große Geste des Interpreten, ohne das Raumgreifende von Orchesterauftritten entsteht eine Musik, die keinesfalls mechanisch wirkt, sondern große Lebendigkeit besitzt. Dazu tragen die unvermeidbaren Nebengeräusche des Kurbelns, des Abrollens und schließlich des Herabfallens des abgespielten Lochstreifens sicher bei. Doch es ist zuallererst die Mannigfaltigkeit der neun Kompositionen, die Zeugnis geben von Soras lebhafter Fantasie; einer Fantasie, die mit beschränkten Mitteln großen Reichtum schafft.
Die neun Spieluhrstücke weisen sehr vielfältige kompositorische Strategien auf. In Texturen oder Unterbrochene Bänder fügen sich unterschiedlich strukturierte Tonschwärme zu einer Einheit zusammen. In Vom Schmetterling zur Raupe (früher: "Ohne Titel 2") wird ein regelmäßiger Puls aus repetierten Akkorden allmählich durch irregulär gestaltete Tonakkumulationen überlagert, zersetzt und schließlich ersetzt. Wechselspiele ist vielleicht das rätselhafteste Stück aus 20 Töne. Nach einer Art Ouvertüre bricht in die Sphäre mechanischer Klangerzeugung unvermittelt, ja geradezu schockhaft der ursprünglichste Träger menschlicher Expression ein: die Stimme. Im Fall dieser Aufnahme handelt es sich um Soras eigene Stimme, die sowohl in normaler Lage zu hören ist, als auch per Computer transponiert und verfremdet. In diesem Stück entfaltet sich ein geheimnisvolles, verzweifelt-expressives Geschehen. Mit minimalen Mitteln werden geradezu theatralische Qualitäten erzielt. In Diskontinuität und Überblendung - das wohl komplexeste aller 9 Stücke - werden zwei völlig unterschiedliche Musikabläufe (A und B) ineinandergeschachtelt. Jeder der zwei Musikabläufe ist in sich diskontinuierlich, weil er aus heterogenen Partikeln, die fast immer unvermittelt aufeinander folgen, besteht. Erst erklingen nur Partikel aus A. Allmählich erscheinen zwischen ihnen immer häufiger Partikel aus B und verdrängen progressiv alle A-Partikel. Am Schluss der Komposition erklingt nur noch B. Man kann also hier von einem diskontinuierlichen Überblendungsvorgang sprechen. Die Partikel beider Abläufe, die im Verlauf des Stückes einige Male verändert wiederholt werden, erklingen jedes mal in einem neuen Zusammenhang, wodurch unterschiedlich deutliche Querbezüge und Erinnerungsmomente entstehen. Zwei Stücke aus 20 Töne sind semantisch aufgeladen durch musikalische Zitate: Eingefangenes Monument beginnt als Klangverdichtung. Nach Erreichen der technisch höchstmöglichen Tondichte, nimmt die Häufigkeit der Klangereignisse allmählich wieder ab. Gegen Ende dieses Ausdünnungsprozesses integriert Sora gleichermaßen organisch wie beiläufig als „Monument“ ein kurzes Zitat aus Beethovens 5. Sinfonie: Eine Erinnerung an die verlorene Klassik. Mit einer gleichermaßen verspielten wie ironischen Inszenierung der diatonischen Tonleiter, beginnt Tradiertes Material. Als eine Art von objet trouvé findet auch eine den Klavierschülern bekannte Hanon-Übung Eingang in das Stück. Im seinem Verlauf entwickelt sich plötzlich aus den Tönen c-d-e-f der Tonleiter das Thema von Bachs C-Dur-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier (Bd. I), deren Anfang zitiert wird. Nach Verklingen dieser Episode verdichtet sich das Geschehen, gewissermaßen antithetisch zur Musik Bachs, zu Massenstrukturen.
Gemeinsam sind allen Kompositionen die unter dem Titel 20 Töne zusammengefasst sind, minimalistische Tendenzen: Sowohl in materieller Hinsicht (winzige diatonische Kurbelspieluhr) als auch in struktureller Hinsicht (zum Beispiel Unterbrochenes Band, das reduzierteste Stück der Reihe, das mit einem einzigen rätselhaft-tiefen Ton überrascht). Dagegen könnte man behaupten, dass Drei Angriffe (2004) für MIDI-Klavier eher „maximalistische“ Züge aufweist, da es aus Tausenden von Tönen besteht. Sora komponierte dieses metallisch und in den sehr tiefen Registern perkussiv-gonghaft klingende Stück mit Hilfe eines Computer-Programmes, das Graphik in Klang übersetzt oder, vielleicht besser gesagt, das das Lesen optischer Strukturen von links nach rechts in Musik konvertiert. Obwohl in diesem Stück alle Ersteinfälle graphischer Natur waren, hat er seine kompositorischen Entscheidungen hauptsächlich nach dem Kriterium der klanglichen Wirkung getroffen. Das gleichzeitige Arbeiten auf zwei Ebenen (graphisch und akustisch) bewirkte für ihn eine Distanzierung vom Erst-Einfall und bedeutete eine künstlerisch produktive Entfremdung. Man könnte seine kompositorische Strategie als ein Ausloten und Reflektieren des Strukturdenkens definieren oder als eine Versöhnung des Strukturdenkens mit der Intuition.
Die zwei Stücke Improvisationscollage und Erstes Destillat aus „Improvisationscollage“ (beide 2004) bilden den Auftakt eines work in progress, einer Serie von insgesamt 6 Kompositionen für MIDI-Klavier mit dem geplanten Titel Destillation. Die Arbeit an der Improvisationscollage begann Sora mit der digitalen Aufnahme eigener Klavier-Improvisationen. Die im Originaltempo verwendeten Materialien – charakteristische, 10 bis 30 Sekunden lange Improvisationsfragmente – hat er zu einem kohärenten Ablauf (und zugleich in die Unspielbarkeit) collagiert. Über kompositorische Verfahren wie Schnitte oder Überblendungen, über Gestaltung der Übergänge entschied er aber zuletzt immer mit dem „intelligenten Ohr“. Im Wesentlichen ging Sora dabei assoziativ vor, wobei er Ratio und Konstruktivität niemals ausgeschaltet hat. Dieses Stück hat weitgehend einen gestischen Duktus und wirkt klavieristisch-virtuos. Im Gegensatz dazu ist im Ersten Destillat aus „Improvisationscollage“ diese Eigenschaft in den Hintergrund gedrängt. Es besteht aus nur 30% des Improvisationsmaterials, das im Ausgangsstück Improvisationscollage Eingang fand, hat aber dieselbe Dauer wie dieses, nämlich 4 Minuten 23 Sekunden. Der Vorgang der Destillation ist also nicht dahingehend zu verstehen, dass das Stück knapper wird, sondern dichter, komplexer, reflektierter und dadurch „abstrakter“. Destillation bedeutet auch, dass etwas Lebendiges und Individuelles eingefangen wird und anschließend zu etwas Künstlichem verarbeitet wird, womit sich das Verfahren der Destillation gleichermaßen als destruktiv wie konstruktiv erweist. Das „Naive“ oder „Primitive“ der zugrundeliegenden Improvisation wird mit Hilfe der kompositorischen Technik „denaturalisiert“ und sublimiert. Doch bleibt im Ersten Destillat – trotz der Abstraktion auf die abgezielt wird – der ursprüngliche improvisatorische Impetus deutlich als Sediment noch zu hören.
Im weiteren Verlauf des Zyklus Destillation (von dem bis jetzt nur die oben beschriebenen zwei Stücke fertig sind), wird diese Art selbstreferentiellen Arbeitens weitergeführt. Geplant sind noch vier weitere „Destillate“, wobei jedes spätere Destillat aus dem vorherigen extrahiert wird. Jedes der fünf Destillate wird dieselbe Dauer wie Improvisationscollage haben. Der Zyklus wird eine prozessuale Großform in sechs Etappen haben, im deren Verlauf der mit dem Ersten Destillat eingeleitete Abstraktionsvorgang zu Ende geführt wird. (Trotzdem wird jedes Destillat auch einzeln als selbständige Komposition Bestand haben.) Im fünften und letzten Destillat werden sämtliche musikantischen Charakteristika des Ausgangsstücks getilgt sein. Es geht Sora in den Destillaten also um eine qualitative Veränderung, um eine „Sublimation in fünf Etappen“. Das 5. Destillat soll sozusagen eine Art „Quintessenz“ des Ausgangsstücks werden. Die zwei hier vorgestellten Stücke verweisen also auf Zukünftiges.
Michael Zwenzner