Yaara Tal:

Die Begegnung Mensch-Maschine, beziehungsweise Mensch-Technik gelang in Ihrem Werk Wechselspiele für Kurbelspieluhr und zwei menschliche Stimmen sehr positiv. Wie schaut dieses Verhältniss in Ihrer Komponistenwerkstatt aus?


Tom Sora:


Das Verhältnis Mensch-Technik ist oft kontrovers diskutiert worden. Mein Standpunkt zur Technik ist, dass sie nicht vom Menschen trennbar ist, dass man ihren Einsatz aber stets von einem übergeordneten, ethischen und - nur in der Kunst - einem ästhetischen Standpunkt beurteilen muss. Dabei meine ich unter Technik sowohl die für die Reproduktion des Lebens bereits erfundenen Geräte, Werkzeuge und Rezepte (ohne die das menschliche Leben von ihrem geschichtlichen Anfang an undenkbar wäre), als auch, grundsätzlich, die Fähigkeit auf die immer wieder neu eintretenden Situationen des Lebens, neue und adäquate Antworten zu finden. Technik ist für mich nicht etwas dem Menschen fremdes oder ein dem Menschen von „außen“ aufgesetzter Habitus, sondern ein essentielles, konstitutives und definitorisches Element des Menschseins. Aber Technik ist nicht nur ein Ausdruck und Produkt des menschlichen Geistes, sondern gleichzeitig auch ein Sprungbrett zu neuen Horizonten. In der Kunst und speziell in der Musik haben neuerfundene oder verbesserte Instrumente - also Tonproduzierende Werkzeuge - immer auch zu mehr oder weniger bedeutenden Erneuerungen des gerade aktuellen Idioms beigetragen. Als einziges Beispiel sei hier an die Wirkung erinnert, die die Entwicklung des Klaviers in der Zeit zwischen dem frühen Beethoven und den romantischen Klaviervirtuosen, sowohl auf die musikalische Sprache, als auch auf die einzelnen Klangstrukturen der Musik ausgeübt hat. In diesem Sinn habe ich den Satz gemeint: Es ist der Umgang mit dem Werkzeug, mit der Technik der mich fasziniert. Denn obwohl ich gar kein Technizist oder Technokrat bin, glaube ich, dass das Wesen des Menschen durch die Technik definiert wird und dass der Mensch ohne die Technik nicht Mensch sein würde.

Technische Mittel wie Computer und bestimmte Musik-Herstellungsprogramme, aber auch exotische Werkzeuge wie die Kurbelspieluhr sind für mich (im oben erwähnten Sinn), auch Erfindungshilfen oder -mittel für neue strukturelle Konstellationen, aber auch Hilfen für die Entdeckung neuer Sinn-Horizonte. Ich lasse mir etwas Spezifisches für ein bestimmtes Medium (zum Beispiel ein graphisches Kompositionsprogramm) „einfallen“ und exportiere anschließend dieses vorläufige Produkt in ein anderes Medium (zum Beispiel in ein Notationsprogramm). Anschließend bearbeite ich dieses Zwischenstadiums-Produkt nach rein „musikalischen“ Kriterien. Diese Übersetzungen der Inhalte aus einem Medium in ein anderes nehme ich in der relativ frühen Entstehungsphase eines Werkes sehr oft vor. Durch diese Übersetzungen bewirke ich eine mehr oder weniger große Verfremdung dieses Produktes, die mich immer kritisch-produktiv in eine höhere, abstraktere Erfindungsebene transportiert. Darüber hinaus übersetze ich manchmal die philosophischen, poetischen, ästhetischen oder strukturellen Inhalte oder Aspekte der entstehenden Komposition in das Medium Sprache, was bedeutet, dass ich sie schriftlich kommentiere. Dieses System der vielfachen Übersetzungen eines selben Inhaltes in unterschiedliche Bereiche oder „Dialekte“ des eigenen Denkens, ist für mich ein Teil meiner Kompositions-TECHNIK. Ich betrachte so eine künstlerische kreative oder produktive Selbstreflexivität, als eine Herstellungstaktik und -strategie.


Yaara Tal:


Im Zusammenhang mit der von Ihnen beschriebenen interdisziplinären Übertragung von Modellen und Strukturen, kann man auch an das Schaffen von Xenakis denken. Sie arbeiten auch wissenschaftlich. Der Titel Ihrer Dissertation lautet Der modulare Konstruktivismus. Homogene Räume in der Utopie und der repetitiven Kunst. Könnten Sie uns kurz diesen Titel erläutern?


Tom Sora:


Ein Hauptthema meiner Dissertation ist die Korrespondenz zwischen einem bestimmten holistischen Staatsmodell, das hauptsächlich in der autoritären Utopie seit Morus entwickelt wurde und dem Kunstwerktyp mit repetitiver oder modularer Struktur. Ich habe in meiner Arbeit versucht, diese Strukturen in bestimmten utopischen Staatsentwürfen nachzuweisen, zum Beispiel beim Gründer des modernen utopischen Staatsmodells, Morus, der die Identität aller Städte im Staate Utopia vorsieht, oder bei den ähnlich repetitiven utopischen Gesellschafts- und Architekturentwürfen von Mondrian und Le Corbusier - insoweit sich ihre Staatsmodelle aus ihren Texten rekonstruieren lassen. Hauptsächlich diese zwei Künstler der Avantgarde haben die utopische gesellschaftliche repetitive Struktur ästhetisiert, dadurch, dass sie sie aus der Sphäre der politischen Spekulation, in die Sphäre der Kunst importiert haben und sie zu einem wesentlichen Teil (zusätzlich zu ihren utopischen Texten) über das Medium Kunst propagiert haben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die repetitiv-modularen Strukturen vollends ästhetisiert worden, hauptsächlich in der minimal music und in der minimal art, zwei Kunst-Bewegungen die ohne die Begleitung einer politischen Theorie auftraten. Die modularen Strukturen haben ab den 60er Jahren die Form von Kunstwerken weit über die stilistischen Grenzen des Minimalismus determiniert (zum Beispiel in der seriellen pop art oder in der Architektur der 50-70er Jahre, um nur zwei Beispiele unter vielen zu nennen).

Sowohl das einzelne repetitive Kunstwerk, als auch ein Staat mit strikt repetitiver Struktur repräsentiert einen „homogenen Raum“, denn das generative Prinzip der Wiederholung das beide entstehen lässt, bringt immer Homogenität hervor. Ein politischer und gesellschaftlicher homogener Raum garantiert eine soziale und politische Konfliktlosigkeit, denn die Konflikte können nur entstehen wenn es ein Gefälle zwischen verschiedenen unterschiedlichen Positionen gibt - sei es zwischen Individuen oder zwischen Gruppen. Sobald identische Gruppen zu einer übergeordneten, zusammengesetzten und homogenen Einheit zusammengefügt werden, entfällt jedes Konfliktmotiv innerhalb dieser Einheit. Gerade wegen ihrer totalitären Absage an das Einmalige und die Einmaligkeit, die den Konsens herbei zwingen will, sind sie für mich ein wichtiges Thema. Es ist aber hier nicht der Ort um mich eingehender darüber auszubreiten, ich verweise aber auf ein Buch an dem ich über dieses Thema arbeite, und das voraussichtlich Ende 2006 herauskommen wird.


Yaara Tal:


Parallel zu Ihrer wissenschaftlichen Forschung, entstand in den Jahren 2001-2004 Ihr Werk Gesetz und Freiheit. In gewisser Weise, könnte dieser Titel Ihr Lebensmotto sein, ... denn Sie haben eine unkonventionelle Biographie. Als Mensch ungebunden, haben Sie es nie darauf angelegt, von irgend einer Institution gefördert zu werden, geschweige denn, sich in eine Abhängigkeitsbeziehung zu einer Institution zu manövrieren. Stets entwickelten Sie Ihre künstlerischen Konzepte, beziehungsweise verfolgten Sie deren Inhalte, ohne Kompromisse, in einem eigens freigeschaufelten künstlerischen und mentalen Lebensraum: Tom Soras Freiheit. (...) Sie haben das „Gesetz“ als einen Gegenentwurf zu Ihrer Freiheit gestellt. Beides, Gesetz und Freiheit .. finden in Ihrem bildnerischen und musikalischen Werk ihren ästhetischen Ausdruck. Welche Beziehung gibt es zwischen den Themen die Sie wissenschaftlich behandeln und Ihrer Musik? Und spezieller: Ist Freiheit ein Thema das sie besonders beschäftigt und wenn ja, wie setzten sie es um, in dem erwähnten Werk?


Tom Sora:


Ja, auf jeden Fall! Die Freiheitsproblematik ist in der Tat für mein Leben fundamental, wie es aus der vorigen Antwort teilweise ersichtlich wurde.

Ich thematisiere in der Komposition Gesetz und Freiheit, mit ästhetischen Mitteln einen für mich relevanten Aspekt der Freiheitsproblematik, und zwar die Dialektik von Freiheit und Ordnung oder Gesetz. Ich sage bewusst „Dialektik“, denn es gibt keinen einfachen Gegensatz zwischen diesen zwei Polen, sondern sie definieren sich immer gegenseitig: Jeder dieser Pole bildet eine Art Hintergrundfolie für seinen Gegenpol. Das Gesetz ist eine Einrichtung die sowohl für das gesamte Kollektiv, als auch für jedes Individuum bestimmend ist. Man kann den Freiheitsgrad einer Gesellschaft als Summe der individuellen Freiheiten betrachten. Aber die Freiheit definiert sich existentiell nur vom Individuum her. Das Paradoxe ist aber, dass die (theoretisch absolute) Freiheit des Individuums der Ausdruck oder die Manifestation des individuellen Gesetztes (also der einmaligen Antriebskräfte, internalisierten Prägungen und Motivationen) der jeweiligen Person ist. Insofern ist jedes Individuum als Person eine gesetzmäßige Struktur. Jedes individuelle Gesetz muss sich mit dem kollektiven Gesetz harmonisieren - mehr noch: Es hat ohne den Hintergrund der kollektiven Gesetztes gar keinen Sinn, denn es definiert sich gerade vor diesem Hintergrund und nicht in einem sozialen leeren Raum. Sehr vereinfacht kann behauptet werden, dass die Spannungen die zwischen verschiedenen Individuen und der Gesellschaft existieren, auf einer Skala von 0 bis 100 folgendermaßen verteilt werden: 0 = Konformismus, 100 = Anarchismus. Dieses Schema ist freilich äußerst platt. Interessant wird es, finde ich, wenn viele verschiedene Prozentpunkte dieser Skala miteinander in Beziehung gesetzt werden, und wenn die innere Gesetzmässigkeit des Anarchismus, sowie seine Interaktion mit dem kollektiven Gesetz dargestellt werden.

Ich möchte diese Komposition kurz beschreiben, um zu zeigen, wie diese Interaktion von Gesetz und Freiheit sich aus ihrer musikalischen Struktur herauslesen lässt: In diesem Stück überlagern sich drei Klangebenen. Die erste könnte Gesetz genannt werden, weil sie nur absolut regelmäßige, symmetrische Strukturen aufweist. Sie ist ein sequenzartiger aber kontinuierlicher Tonfluss dessen Dichte stetig abnimmt und der einen extrem hohen Ordnungsgrad aufweist (*** siehe "Fußnote" rechts oben). Sie ist übrigens ein sehr gutes Beispiel für einen „homogenen Raum“ in der Kunst. Ihre zeitliche Struktur ist ohne weiteres in eine optische Struktur übersetzbar und weist als Graphik eine große Schönheit auf. Wie man es in der Fußnote sehen kann, ist sie äußerst rationell geplant und schließt grundsätzlich und radikal jedwede Spontaneität aus, aus welchem Grund sie auf die Dauer musikalisch langweilig ist. Sie wird von einem Disc-Klavier gespielt. Die zweite Ebene ist aus Lautsprechern zu hören: Es sind synthetische Klänge, die an Blasinstrumente erinnern. Die verschiedenen Tonkonstellationen die diese Ebene konstituieren sind fast alle von der sehr dichten und repetitiven ersten Ebene übernommen. Dementsprechend weisen auch sie, als Graphik, eine schöne, symmetrische Geometrie auf, allerdings hat diese Ebene als Gesamtheit eine Dramaturgie, die nicht repetitiv ist, sondern die eine überraschende, musikalisch überzeugende Entwicklung darstellt. Insofern ist diese Ebene eine Mischung aus „Gesetzestreue“ und spontaner Entscheidungsfreiheit. Die dritte Ebene wird von Instrumentalisten (vier Schlagzeuger, 2 Klavierspieler vierhändig an einem Klavier) gespielt. Sie unterscheidet sich nicht nur deswegen grundsätzlich von den ersten zwei „mechanischen“ Klangebenen, sondern auch weil ihr kompositorischer Ansatz ein ganz anderer ist: In ihr artikuliert sich ein Raum der (leider nur relativen) Freiheit oder der relativen Anarchie. Ich habe sie (selbstverständlich im Zusammenhang zu den ersten zwei Ebenen) intuitiv komponiert, und zwar mit Hilfe eines Komputerprogramms, das Graphik direkt in Klang umsetzt. Ganz programmatisch habe ich die Noten und Rhythmen dieser Ebene bis zur definitiven Fertigstellung nicht kennen lernen wollen, sondern habe mich nur auf mein spontanes, improvisatorisches musikalisches Entscheidungsvermögen verlassen. Diese Ebene habe ich also sozusagen nur mit den Ohren („nach Gehör“) und mit den Augen komponiert. Ich habe das musikalische oder klangliche Resultat erst ganz zum Schluss des Erfindungsvorganges in Noten übersetzt, um eine aufführbare, normal instrumentierte Partitur zu erstellen.

Keine dieser Ebenen hat allein genommen einen ausreichenden künstlerischen Sinn. Erst durch ihr Zusammenwirken entsteht eine einheitliche und kohärente Komposition. Die Ebenen 1 und 2 gehören strukturell und von der mechanischen oder maschinellen Tongenerierung her, eng zueinander. Die Ebene 3 ist zu den ersten zwei nicht nur inhaltlich antagonistisch, sie ist im Verhältnis zu ihnen auch zeitversetzt: Die Instrumentalisten beginnen erst ca. drei Minuten nach Anfang der Komposition zu spielen und am Schluss spielen sie ohne Begleitung der „mechanischen“ Ebenen noch ca. drei Minuten lang. Wenn man diese Komposition auf die Summe der drei Ebenen reduziert, und alle anderen Aspekte (Satztechnik, Instrumentation, Details, Zusammenhang, u.a.) ignoriert, kann man sie mit folgender Formel beschreiben: EBENE 1 = kollektives Gesetz; EBENE 2 = akzeptiertes Gesetz und produktiver individueller Umgang damit; EBENE 3 = individuelle Eigengesetzlichkeit und Konflikt sowohl zu Ebene 1, als auch zu Ebene 2.


Yaara Tal:


Gibt es zwischen dieser Komposition und dem Stück Drei Angriffe für MIDI-Klavier Analogien?


Tom Sora:


In bestimmter Weise schon. In diesem Stück entwickle ich eine zum Teil vergleichbare dualistische Konstellation wie in Gesetz und Freiheit. In diesem Fall sind es die Pole Macht/Gewalt/Tod und Zusammenhang/Dialog/Leben die aufeinander wirken. Der Anfang des Stückes Drei Angriffe ist ein Gewebe von unterschiedlichen und kontrastierenden kurzen Klangsignalen die über den ganzen Klangraum, ausgewogen verteilt sind. Ab einem bestimmten Moment entwickeln die Töne der Bassregion ein bedrohliches Eigenleben: sie häufen sich für eine relativ kurze Zeit geschwürartig an und türmen sich aufwärts zu einer riesigen Klangmasse zusammen. Dabei verdrängen oder ersticken sie sozusagen die höher liegenden Klangelemente. Nachdem sich diese Klangmasse in die Basszone wieder zurückgezogen hat, nimmt das Klangleben oben seine